Die Avocado – oder das hässliche Entlein aus dem Obstregal (AT)
Sie sieht einfach bescheiden aus. Eher ein dreckiges Braun, runzelig und innen ölig. Und doch ein großer Importschlager. Nun hat sie es, zwar aufgeschnitten, aber ganz in Gold auf einen Bagel geschafft. Der Materialwert beträgt 850.000 Euro! Der sympathische - wie selbstbewusste - erst 29-jährige Stuttgarter Künstler Tim Bengel plant aber fantastische Wertsteigerungen, nebst reichlich Furore á la Bansky.
Ausschlaggebend für meine Aufgeregtheit und das dadurch entstandene Projekt waren die Zitate in diesem Artikel von Uwe Bogen, veröffentlicht in den Stuttgarter Zeitungen, welchen ich hier eingefügt habe:
» Die Goldspur des Zeitgeistes
Der Stuttgarter Tim Bengel will „wie der geschredderte Banksy“ bei der Art Week in Berlin für Furore sorgen – dem Zeitgeist auf der Spur
StN, 16.09.2021. Von Uwe Bogen
STUTTGART. Qualität und Können reichen in der modernen Kunst schon lange nicht mehr aus, um ganz nach oben zu kommen. Auf dem Kunstmarkt schießen mitunter die Preise aus unerklärlicher Weise ins Fantastische – meist dann, wenn der Marktwert dank irrer Ideen explodiert. Der Stuttgarter Künstler Tim Bengel mit Studio im Esslinger Bergheim weiß dies zu gut. Vor einigen Jahren hat er damit begonnen, mit Werken aus Gold, Sand und Klebstoff die sozialen Medien zu rocken. Früh erkannte der heute 29- Jährige, dass Kunst nicht durch Kopieren und Nachmachen entsteht, sondern durch das Schaffen von Neuem und Überraschungen.
Was Tim Bengel für die Art Week in Berlin plant, „wird hoffentlich so große Wellen
Schlagen, wie einst der geschredderte Banksy oder der mit Diamanten überzogene Totenschädel von Damien Hirst“, sagt er unerschrocken. Seine Sprache sprudelt vor Selbstbewusstsein. Kaum erwarten kann er es, wie die Kunstwelt reagiert. Hirsts Diamantenschädel hat einen Wert von 75 Millionen Euro erzielt.
Dank der Hilfe von Sponsoren sind 850.000 Euro an Materialwert in Bengels erste Skulptur geflossen, mit der er prachtvoll verewigen will, was seine Generation ausmacht. Folgende Frage hat er sich gestellt: Was ist das Symbol der „Millennials Generation Y“? Seine Antwort: die Avocado. Auf einem Bagel hat er sie in purem Gold geschaffen. So entstand „der teuerste Avocado-Toast der Welt“, wie eine US-Zeitung schreibt. Die Präsentation hat Bengel als Medienspektakel in der Hauptstadt inszeniert. Porsche liefert den Sportwagen dazu, der mit Bildern von Avocados bemalt ist.
Die Frucht mit der dunkelgrünen Schale erlebt einen Boom, der sich, obwohl ohne regionale Vorzüge, immer weiter steigert. Die Avocado ist ein Massenprodukt. Die Berliner Galerie Rother bietet Bengels Bagel, ein Unikat aus 18 Karat Gold, für zweieinhalb Millionen Euro zum Kauf an. „Für die Realisierung meiner Skulptur standen zwölf Kilogramm Gold zur Verfügung“, berichtet Bengel, „dies wurde von der Kußmaul GmbH, die auch die Rolls-Royce-Figur herstellt, nach meiner Version in Form gebracht.“ Galerist Christian Rother sieht in dem Werk „das Potenzial, zu einer Ikone unserer Zeit zu werden“.
Die goldene Avocado-Skulptur wird während der Berlin Art Week im Restaurant Avocado Club ausgestellt. In dieser Zeit wird der Betrieb dort extra eingestellt und der Raum zur Schatzkammer umgestaltet. Ist die Avocado zu Recht ein weltweiter Star der jungen Generation? „Die Frucht steht für Gesundheit, Schönheit, Veganismus, kulinarischen Genuss, ist aufgrund ihres Preises Statussymbol und wegen ihrer Farbe ein Hinweis auf den grünen Lebensstil“, sagt Bengel, der sich fleischlos ernährt und Teilhaber des veganen Restaurants vhy! in Stuttgart ist.
Doch die eingeflogene Avocado ist ein Klimakiller. „Natürlich will ich auch auf diese kritische Seite hinweisen“, sagt der Künstler auf unseren Einwand. Die „Doppelmoral“ werde er ansprechen: „Auch, dass durch die Gier von Avocado-Produzenten ganze Regionen austrocknen. Durch zu große Gier ist schon König Midas in Griechenland verhungert.“ Die Galerie Rother ließ eine 40.000 Euro teure Hochsicherheitsvitrine für Bengels Avocado anfertigen. Nach der Art Week tourt die Goldfrucht durch Deutschland.«
Da sich alle Künstler in der Kunstgeschichte bedienen, habe ich mich bei PENNY erstmal mit Avocados versorgt. Natürlich etwas günstiger. Zwei Exemplare zu je 99 Cent, Herkunft Kolumbien sowie eine Premium Frucht für ganze 1,99 Euro. Es heißt, dass ab Montag die Avocado für 69 Cent zu haben ist, frisch aus Peru! Jetzt möchte ich wissen, was es mit dieser Frucht der »Millennials Generation Y« (Bengel) auf sich hat, ihrem Ruf von Gesundheit, Schönheit, Veganismus, kulinarischem Genuss – aber auch mit der Kritik am gleichgültigen Konsum eines großen Teiles unserer Gesellschaft, welcher erst die Grundlage für die Not durch den Anbau und den Export dieser wasserintensiven Früchte schafft.
Eine ernsthafte ökologische Bewertung der Avocado soll hier nicht stattfinden. Es gibt viele, durch Lobbyisten, Fans und Gegner geprägte Informationen. Zu viele Vergleiche von Fußabdrücken. Zuviel Emotionen.
Mal schauen, ob es auf meinen Fotografien gelingen kann, die grüne bis braune umstrittene Exotin symbolisch und mit einem Augenzwinkern in unserem augenblicklich stattfindenden gesellschaftlichen Umbruch zu positionieren. Gestern (Stand: 18.09.2021) hatte sie jedenfalls schon einmal eine Begegnung mit einem 3.2 Liter Saugmotor von Porsche. Dem Symbol von Geschwindigkeit und Power im Überfluss.
Das Projekt wurde gefördert durch ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.