Lutz Schelhorn „Zeiträume“

Am 3.Juli 2015 zeigte Stephan Karle mir sein neu erworbenes Areal in Bad-Cannstatt. Die gemeinsame Begehung war von Ehrfurcht vor dem Bauwerk geprägt. Wir waren begeistert. Phantasien wurden laut. Diese schiere Größe, meist von italienischen Steinmetzen mit Hingabe erbaut, ist Zeuge der industriellen Verarbeitung von Stein. All diese Schönheit sollte für einen sehr kurzen Zeitraum leer stehen. Besenrein sozusagen. Voraussichtlich das letzte Mal für eine lange Zeit. Denn durch die immer wichtiger werdende Rückgewinnung von Rohstoffen werden all die schönen Ecken und Flächen ständig mit tonnenschweren Altpapierballen verdeckt sein. Aber für den Zeitraum Ende September bis Anfang November 2015 bekam ich die einmalige Gelegenheit, dieses imposante Industriedenkmal mit all seinen liebevollen Details in spannendes Licht zu tauchen.

Ingmar Volkmann schrieb am 21. April 2017 in der Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift „Stuttgarter Marmor“ folgende Zeilen:

„Die Brüder Adolf und Fritz Lauster, die den Travertin hier von 1902 an abbauten, haben die gigantischen Hallen als „gebaute Visitenkarten aus dem im Steinbruch gewonnenen Travertin errichtet“, wie Karsten Preßler vom Landesamt für Denkmalpflege in einem lesenswerten Artikel über das Industriedenkmal schreibt.

Die riesigen Hallen entstanden laut Preßler zwischen 1920 und 1940. Sie wurden zum Teil in den abgebrochenen Fels hineingebaut. Im Jahr 1919 hatten Fritz und Adolf Lauster acht Angestellte. Ihren Betrieb bauten sie sukzessive aus. Den Höchststand der Beschäftigung erreichte die Firma während des NS-Regimes. Die Nazis schätzten das Baumaterial für ihre absurden Prunkbauten.

Die Erkundung der Hallen geht weiter: Waschbecken für die Arbeiter, Treppengeländer, Toilettenwände, alles ist mithilfe des schwäbischen Marmors architektonisch inszeniert. Die industriegeschichtlich-monumentalen Elemente werden immer wieder durch zeitgeschichtliche Artefakte aus dem Fachbereich Soziologie gebrochen: An einer Scheibe klebt ein Hanuta-Sammelbild von Jens Nowotny von der Fußball-WM 2002 neben einer halben Mannschaft französischer Altnationalspieler. In einer Toilette hängt ein humoristischerVersuch über die richtige Verwendung von Klobürsten. Und in einem anderen Raum thront eine unbekannte Schönheit in „Bravo“-Starschnitt-Größe über einem vergessenen Stuhl.

[...] Das Areal rund um die ehemaligen Steinbrüche zwischen Cannstatt und Münster gilt als eine der wichtigsten Travertin-Fundstellen in ganz Europa. Vereinfacht gesagt entsteht Travertin dort, wo es heiße oder kalte Quellen gibt oder wo viel Mineralwasser im Boden sprudelt – eben wie in Bad Cannstatt. Beim Austritt an die Oberfläche bildet der im Wasser gelöste Kalk Gesteinsvorkommen. Für Archäologen ist dieser Teil von Cannstatt ein Paradies:Travertin wirkt konservierend, immer wieder wurden hier Fossilien entdeckt. Einige der Funde können heute im Naturkundemuseum am Löwentor bewundert werden.

Verbaut wurde der Travertin übrigens in vielen Stuttgarter Vorzeigegebäuden: im Mittnachtbau an der Königstraße, im Neubau der Staatsgalerie, im Haus der Geschichte, im Schloss Rosenstein. Beim Betrachten der Fassaden dieser Gebäude wird klar: Wer braucht schon Marmor, wenn er Travertin hat.“

 

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